Projekt: Förder- und Selektionspraktiken als Reaktionsformen auf Instrumente der Output- und Wettbewerbssteuerung im Schulsystem (‚SelF‘)
News vom 18.07.2017
- Studienhintergrund
Nach den Ergebnissen der internationalen Bildungsvergleichsstudien hat individuelle Förderung vor allem in der Lehr-Lern-Forschung verstärkte Aufmerksamkeit erfahren, wobei aus interdisziplinärer Perspektive meist nach den Bedingungen erfolgreichen schulischen Lernens gefragt wird. Dabei wird (individuelle) Förderung oftmals als modellhaft anzuwendendes Repertoire diagnostischer und didaktischer Maßnahmen gefasst. Sie wird meist als linearer Prozess verstanden: Startpunkt sei die Defizitdiagnose, worauf dann über Beziehungsarbeit die Selbstmotivation der SchülerInnen gesteigert werden könne, was wiederum zu verbesserten Leistungen führe. Mit einer solchen Betrachtungsweise, die individuelle Förderung vor allem als Diagnose und Coaching von SchülerInnen begreift, kommt allerdings erstens nicht in den Blick, wie unterschiedlich individuelle Förderung in unterschiedlichen Schulen ausgestaltet sein kann, zweitens, wie unterschiedliche Formen individueller Förderung auf Seiten der SchülerInnen, aber auch auf Seiten der LehrerInnen wirken und drittens, wie ein Beitrag zur theoretischen Grundlegung individueller Förderung aussehen könnte. Das unter Leitung von Prof. Dr. Johannes Bellmann durchgeführte Projekt ‚SelF‘ hat sich zum Ziel gesetzt, diesen Desiderata zu begegnen. Indem die spezifische Ausgestaltung individueller Förderung als Praktiken der Konstruktion von Differenz in den Blick genommen wird und die darin transportierten Anforderungen im Hinblick auf Subjektivierungseffekte untersucht werden, wird neben empirischen Erkenntnissen auch ein Beitrag zur Theoriedebatte um individuelle Förderung geleistet.
- Studiendesign
An dem qualitativen Forschungsprojekt beteiligen sich vier Gesamtschulen in Brandenburg. In diesen werden in mehreren mehrtägigen Feldaufenthalten Beobachtungen der unterrichtlichen Praxis durchgeführt. Bei der Auswertung der Beobachtungsdaten mittels Interpretationen im Zuge einer Praktiken- und Diskursanalyse kommt in den Blick, wie Praktiken des Differenzierens im Rahmen individueller Förderung ausgestaltet werden. Einbezogen werden hier zudem auch Artefakte, Personen und Interaktionen, die das Vollzugsgeschehen gestalten, als auch Leitfadeninterviews mit LehrerInnen und Schulleitungen sowie Gruppendiskussionen der Steuergremien. Darüber hinaus werden Schuldokumente analysiert, in denen sich Diskurse hinsichtlich der Relationierung von Förderung und Selektion einschreiben.
- Bisherige Analyse-Ergebnisse
Die bisherigen Auswertungen lassen erkennen, dass sich individuelle Förderung in Praktiken der Differenzkonstruktion in unterschiedlicher Weise zeigt. Abhängig scheint dies davon zu sein, wie auf Seiten der Schule und auf Seiten der Lehrkräfte die Forderungen des Förderdiskurses verarbeitet werden. In den beobachteten Unterrichtsstunden wird deutlich, dass individuelle Förderung immer im Zusammenspiel von drei Dimensionen verhandelt wird: In der ersten Dimension geht es um motivational-volitionale Aspekte (Wollen), in der zweiten Dimension um die Potenziale und das gezeigte Können der SchülerInnen (Können) und in der dritten Dimension um die in Schule präsenten Leistungserwartungen (Sollen). Analysiert man das Zusammenspiel dieser Dimensionen genauer, so lassen sich vier grundsätzliche Muster oder Figurationen erkennen, wie individuelle Förderung im Unterricht verhandelt wird. In diesen Figurationen adressieren sich die LehrerInnen wie die SchülerInnen wechselseitig in einer jeweils eigentümlichen Weise. Sie geben dabei an, welche Positionen sie einnehmen (wollen), welche Verantwortungen sie tragen (sollen) und welche Möglichkeitsräume sie besitzen (können). Diese Figurationen reichen von der bloßen Verantwortungsübertragung an SchülerInnen, sich den gesetzten Leistungserwartungen im Rahmen von Selbstführung anzunähern bis hin zur Förderung von Individualität, indem die SchülerInnen lernen, in der Auseinandersetzung mit Sachverhalten ein eigentümliches Wollen erst zu entwickeln. Manche dieser Figurationen scheinen regelmäßiger vorzukommen als andere. Vieles spricht dafür, dass individuelle Förderung vor allem mit Formen eines Behaviour- und Classroommanagements verknüpft ist, das sich durch einen Rückzug der Lehrperson auszeichnet und darauf gerichtet ist, Selbstführungskompetenz zu etablieren. Sachbezogene, didaktische Förderpraktiken, die auf das Verstehen von Unterrichtsgegenständen zielen und intensiver Vermittlungsleistungen bedürfen, treten dagegen in den Hintergrund. Diese Ergebnisse, die noch weiter geprüft und akzentuiert werden müssen, geben Hinweise darauf, dass bei individueller Förderung zunehmend die Bearbeitung von Selbstverhältnissen im Vordergrund steht, die implizit als Bedingung für erfolgreiches selbstorganisiertes Lernen verstanden wird.
- Folgerungen
Individuelle Förderung muss als mehrdimensionales Phänomen betrachtet werden, das sich im praktischen Unterrichtsgeschehen oftmals anders zeigt als von Wirkmodellen gedacht. Die an den untersuchten Figurationen herausgearbeiteten Ambivalenzen sensibilisieren dafür, individuelle Förderung nicht per se als ‚gut‘ zu erachten, sondern ihr Wirksamwerden in einer umfassenderen Weise in den Blick zu nehmen. In Rückmeldeveranstaltungen mit den Schulen sowie in Berichten an Bildungspolitik und -administration werden dahingehend Reflexionsprozesse angestoßen.
Das Projekt wird an der Westfälischen Wilhelms-Universität von Prof. Dr. Johannes Bellmann, Katharina Hans und Sebastian Schweizer durchgeführt.
Projektverantwortliche
Prof. Dr. Johannes Bellmann (Westfälische Wilhelms-Universität Münster)
Wissenschaftliche Mitarbeiter im Projekt
Katharina Hans (Westfälische Wilhelms-Universität Münster)
Sebastian Schweizer (Westfälische Wilhelms-Universität Münster)
Kontakt:
- johannes.bellmann@uni-muenster.de;
- khans@uni-muenster.de;
- sebastian.schweizer@uni-muenster.de